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Die Erscheinung am Matterhorn

  Was sollen wir denken zu diesem Phänomen ? Mann hat viele Vermutungen aufgestellt: Brockengespenst, Nordlicht, Optische Täuschung oder Kollektivhalluzination der drei Bergsteiger, hervorgerufen durch ihre heftige Gemütsbewegung nach dem Unglück; doppelter Regenbogen, durch die Strahlenbrechung deformiert, oder einfach durch die überreizten Sinne der Beobachter; überirdische Erscheinung; alles ist vorgebracht worden, ohne zu einer annehmbaren Erklärung zu führen. Um zu einer plausiblen, wenn auch nicht streng wissenschaftlichen Erklärung des Phänomens zu gelangen, müssen wir nicht nur den verschiedenen Möglichkeiten auf den Grund gehen, sondern auch jede Angabe über die meteorologischen Verhältnisse dieses für den Alpinismus und für die Geschichte des Matterhorns (und Zermatts) so denkwürdigen 14. Juli 1865 gründlich untersuchen.

  In seiner Beschreibung sagt Eduard Whymper, daß er einen Moment glaubte: "... daß wir (er und die beiden Führer) auf die Erscheinung einwirkten. Unsere Bewegungen hatten aber gar keinen Einfluß auf die Nebelformen, sie blieben unverändert." Und er fährt weiter: "Es war ein furchtbarer und zugleich ein wunderbarer Anblick, wie ich noch nie etwas erlebt hatte."

  Es war 6 Uhr abends, "und wir standen auf dem Schnee des nach Zermatt hinunterführenden Grates". Die Seilschaft befand sich also auf dem Firn der Schulter auf ca. 4200 m. "Wir nahmen stillschweigend unsere Sachen und die kleinen Effekten der Verwundeten auf, um unseren Rückweg fortzusetzen. Da zeigte sich ein mächtiger Regenbogen, der über dem Lyskamm hoch in die Luft aufstieg. Bleich, farblos, geräuschlos, aber mit Ausnahme der Stelle, wo die Wolken sich eindrängten, vollständig scharf und abgegrenzt, schien diese überirdische Erscheinung ein Bote einer andern Welt zu sein. Wir erschraken fast, als zu beiden seiten zwei ungeheure Kreuze hervortraten, deren allmähliche Entwicklung wir mit Staunen beobachteten. Wenn die beiden Taugwalder sie nicht zuerst gesehen hätten, würde ich meinen Sinnen nicht getraut haben."

  Diese Überlegungen zeigen, daß Whymper die Erscheinung mit Objektivität und kritischem Sinn aufgenommen hat. Übrigens gibt er seinem Bericht eine ausgezeichnete Zeichnung bei und eine schematische Skizze, die er wahrscheinlich während der Erscheinung selbst ausgeführt hat. Was an dem Bilde verwundert, sind die dunkelgrauen Streifen, eine Art Schatten und Halbschatten, die auf eine Nebelbank projiziert sind, das Ganze von Wolken umgeben. Auf dem Bild hat die Erscheinung erstaunliche Ähnlichkeit mit einem etwas komplizierten Halo, nur mit dem Unterschied, daß ein solcher Halo sich um die Sonne bildet und daß die sich überkreuzenden Streifen nicht dunkel sind wie auf der Zeichnung Whympers, sondern leuchtend. Hell und Dunkel sind also verkehrt: Was beim Halo leuchtend ist, erscheint dunkel auf den Wolkenschirm projiziert, welcher senkrecht zu den Sonnenstrahlen steht. Die Erscheinung befindet sich in südöstlicher Richtung; um 6 Uhr abends in dieser Jahreszeit steht aber die Sonne im Westen, also der Erscheinung gegenüber.

  Auf jeden Fall können beim Lesen von Whympers Beschreibung die oben erwähnten Vermutungen nicht befriedigen, und wir müssen nach einer neuen Erklärung suchen. - Indem Whymper auf den Bericht des Abbé Gorret über die erste Besteigung des Matterhorns vom italienischen Grat her bezug nimmt, die den Bergsteigern Jean-Antoine Carrel und J.B.Bich am 17. Juli 1865 gelang, schreibt er, daß, nachdem die beiden Bezwinger wieder bei ihren Kameraden, Abbé Gorret und J.J.Meynet, anlangten, die auf ca. 4350 m zurückgeblieben waren, daß "sie im Augenblick, da sie die Schulter erreichten (ca. 4250 m), Zeugen des Phänomens wurden, von dem er berichtet habe". Die Daten stimmen nicht überein: Bei der Beobachtung Whympers handelt es sich um den 14. Juli, während diejenige von Abbé Gorret auf den 17. Juli fällt, also drei Tage später gemacht wurde. Aus dem Bericht des Abbés, kann für den 17. Juli 1865 folgendes entnommen werden: "Nachdem wir unsere Vorräte auf unserem Fels (Schulter am italienischen Grat) wieder zu uns genommen hatten ( wir hatten nicht einmal Zeit, zu essen, er war zu spät), erblickten wir eine Erscheinung, die uns Freude machte. Es war klar in der Schweiz, und wir sahen uns inmitten eines Kreises in Regenbogenfarben. Diese Fata Morgana umgab uns alle mit einem Kranz, in dessen Mitte wir unseren Schatten sahen."

  Was die Identifikation des Phänomens anbelangt, ist die Beobachtung des Abbé Gorret weniger präzis. Whymper stellt deutlich fest, daß die Erscheinung unbeweglich blieb, als er selbst sich bewegte. Gorret spricht von "unserem Schatten" und: "Wir sahen uns inmitten eines Kreises". Whymper spricht von "bleichen Farben", während Gorret Regenbogenfarben erwähnte. Beiläufig sei festgehalten, wie verschieden ein unerklärliches Naturphänomen auf den Beschauer einwirkt, je nach seiner geistigen Verfassung. Die Seilschaft Whymper "erschrak fast", während die andere, begeistert nach einer ohne Unfall gelungenen Besteigung, sich an der Erscheinung freuten.

  Nach den Bericht Gorrets befand sich dieser am 14. Juli 1865, begleitet von Ingenieur Jordona, auf dem Theodulhorn, als er gegen 14 Uhr auf dem Gipfel des Matterhorns Personen bemerkte. Er stieg unverzüglich nach Breuil ab, um den Empfang der "Sieger" vorzubereiten, die nach seinem Dafürhalten nur Carrel und seine Gefährten sein konnten, welche am gleichen Tag wie Whymper aufgebrochen waren. Es ist also absolut sicher, daß sich die Beobachtung Whympers und des Abbé Gorret auf zwei verschiedene Erscheinungen beziehen, die sich in einem Abstand von drei Tagen ereigneten. Hat sich Whymper unbewußt getäuscht, oder wollte er einfach zur Bestätigung seiner Beobachtung sagen, daß sich das Phänomen drei Tage nachher noch einmal ereignete? Für die Identifikation des Phänomens ist das nicht weiter von Bedeutung. Im Bericht Gorrets erfährt man weiter, daß sich das Wetter in der Nacht vom 17. Juli auf den 18. Juli endgültig verschlechterte. Der Autor spricht von einem nächtlichen Gewitter. Am Morgen des 18. Juli war das Biwakzelt von einer fußhohen Hagelschicht bedeckt. "Der ganze Berg war weiß und das Wetter nicht schön." Der Abbé erwähnte noch speziell, daß sie "zwei Stunden damit verloren, Hagelkörner für ihr Frühstück zu schmelzen, und daß er nie gedacht hätte, daß Hagelkörner so schwer zum Schmelzen zu bringen seien und so wenig Wasser ergäben". Es handelt sich offenbar um bei einer Temperatur tief unter Null übermäßig gefrorene Hagelkörner, was für die weiteren Ausführungen in dieser Studie von Wichtigkeit sein wird. - Der Abstieg war unter den herrschenden Bedingungen sehr schwierig. "Alles war vereist." - Was die Witterungsverhältnisse vom 14. Juli anbelangt, sagt Whymper, nachdem die Sonne am 13. Juli "einen guten Tag versprechend" untergegangen sei: "Es war einer der ungewöhnlich ruhigen und heitern Tage, denen gewöhnlich schlechtes Wetter zu folgen pflegt. Die Luft war vollkommen still und von allen Dünsen frei. Berge, die 75 km, ja 100 km entfernt waren, zeichneten sich mit scharfen Umrissen ab und sahen ganz nahe aus." ... "Der 160 km entfernte Viso schien dicht neben uns zu stehen; die maritimen Alpen, zwischen denen und uns mehr als 200 km lagen, waren von jedem Dunst frei." Es herrschte vollständige Windstille. Und weiter sagt Whymper: " Zehntausend Fuß unter uns lagen die grünen Matten von Zermatt mit ihren Sennhütten, aus denen langsam grauer Rauch aufstieg." Auf der anderen Seite erblickte man in einer Tiefe von 8000 Fuß die Weiden von Breuil. Die Luft war kristallklar um 2 Uhr nachmittags! Das Wetter blieb schön und klar auch am 15. Juli, 16. Juli und 17. Juli (Montag); auf den nächsten Tag änderte es dann plötzlich.

  All diese Angaben deuten auf eine Föhnperiode hin, die Luft muß mit Feuchtigkeit übersättigt gewesen sein. Trotz der unvollständigen Beschreibung Gorrets kann man annehmen, daß es sich bei seiner Lufterscheinung um ein charakteristisches Brockengespenst gehandelt hat, begleitet von Regenbogenfarben, die durch die kleinen Wassertröpfchen oder Eiskristalle eines Kondensationsnebel entstanden, in welchem sich die Sonnenstrahlen brachen. Ohne diesen Nebel hätte das Beschriebene Phänomen nicht entstehen können.

  Ganz anders war die Erscheinung Whympers. Auf seiner Zeichnung kann man feststellen, daß sich das Phänomen auf über 4500 m ("über dem Lyskamm") zeigte, wie auf einem riesigen, weit entfernten Schirm. Dieser Schirm bestand aus einer homogenen Schicht Zirruswolken, d.h. aus einer Anhäufung von feinen Eisnadeln. Da das Wetter sehr ruhig war, war das Ganze nicht vom Wind zerrissen und bildete von weitem eine Art von senkrechtem Spiegel.

  Seltsamerweise gleicht das Phänomen auf Whympers Zeichnung einem Halo (oder einem Strahlenkranz), der sich unter bestimmten atmosphärischen Voraussetzungen bilden kann und immer eine bevorstehende Wetteränderung anzeigt. Gewöhnlich erscheinen diese Halos in der Form eines einzigen konzentrischen Kreises um die Sonne. Zuweilen teilt sich dieser in zwei oder (sehr selten) in mehre, voneinander getrennte Kreise oder Bogen, die sich überschneiden können, und dann, unter sich durch Bogen und Kreuze verbunden, außerordentlich regelmäßige geometrische Figuren bilden. Die Erscheinung beruht auf der Beugung von Lichtstrahlen durch feinste Wassertröpfchen (oder vielmehr Eisnadeln) einer sehr lockeren Wolke oder durchsichtigen Nebelschicht. Diese Ringe oder Kränze sind in der Mitte leuchtend, gegen die Innenseite rot und nach außen violett gefärbt. Infolge der Unhomogenität der übereinanderliegenden Luftschichten können sie ihre Form beträchtlich verändern und besonders vertikale und horizontale gerade Linien bilden, die sich zuweilen berühren oder kreuzen. Die Sonne selbst kann ein Kreuz von einzigartiger Schönheit bilden, eine Erscheinung, die in unseren Breiten ziemlich selten ist, in den Polargebieten aber häufiger vorkommt.

  Nach Whymper Darstellungstand er mit seinen Führern im vollen Sonnenschein. Er hätte also einen Sonnen-Halo direkt sehen können, wenn er von unserer Gegend aus überhaupt sichtbar gewesen wäre. Als guter Beobachter, schon von seinem Beruf her, hätte er aber dies sicher erwähnt. Wir müssen daher annehmen, daß der Halo im Nordwesten außerhalb unserer Breitenlage entstand, für uns durch die Erdkrümmung versteckt, und daß er in einer Höhe von über 4500 Meter von einem unbeweglichen Wolkenschirm teilweise reflektiert wurde, einem Wolkenschirm, dessen Ebene und Einfallswinkel für das Auffangen einer Luftspiegelung günstig waren. Es ist die gleich Erscheinung, wie die Widerspiegelung eines Schiffes hoch am Himmel, die zuweilen erstaunten Seefahrer erscheinen.

  Die absolute Windstille und außerordentliche Klarheit der Atmosphäre bis über 200 km, d.h. über die Erdkrümmung hinaus, lassen ein solches atmosphärisches Phänomen für diesen Tag als durchaus möglich erscheinen.

  Wir müssen daher annehmen, daß Whymper die partielle Luftspiegelung, das heißt den Reflex eines Sonnen-Halos, welcher selbst durch die Erdkrümmung versteckt war, sah. Der Reflex war deformiert oder mit einem Sonnenkreuz kombiniert. Diese Luftspiegelung brauchte von tieferen Lagen aus nicht gesehen zu werden, da sie nur bei bestimmtem Einfallswinkel wahrgenommen werden konnte.

  Aus all diesen Daten und Anhaltspunkten können wir schließen, daß die Erscheinung, deren Zeugen Whymper und seine Bergführer am 14. Juli 1865 waren, weder ein Brockengespenst, noch ein Nordlicht, noch ein deformierter doppelter Regenbogen und noch weniger eine optische Täuschung oder eine Kollektivhalluzination war. Es konnte kein direkt sichtbarer Sonnen-Halo sein, da die Luftspiegelung um 6 Uhr abends im Südosten stand, d.h. der Sonne gegenüber. Und die Beschreibung Whympers und seine meisterhafte Zeichnung sind zu präzise, als daß man eine der Hypothesen gelten lassen könnte, und auch die Beschreibung Abbé Gorrets (für seine Erscheinung) bildet einen Gegenbeweis, der unsere Schlußfolgerung bestätigt. Wenn man die Zeichnung Whympers mit dem Bild eines vollständigen Halos vergleicht, wie er sich um die Sonne bilden kann, so zeigt sich eine frappante Ähnlichkeit, wenn man die Effekte der Deformation, der Ablenkung und Zurückbiegung in Betracht zieht, sowie die Umkehrung nach Interferenz und die teilweise Aufhebung der Schatten wie der leuchtenden Partien der Erscheinung durch das Spiel des vom sehr hochgelegenen Wolkenschirm zurückgeworfenen Lichtes nach Refraktion (Strahlenbrechung), Diffraktion, Polarisation und optischer Absorption. Es sind diese Einflüsse, die sich auf große Distanzen immer geltend machen, durch zwischenliegende Luftschichten von verschiedener Durchsichtigkeit und verschiedenem Brechungsvermögen. Sehr wahrscheinlich hat es sich auch um ein umgekehrtes Bild gehandelt, was aber - bei der symmetrischen Form eines Halos - an der Erscheinung selbst nicht viel ändern konnte. Während ein Sonnen-Halo sehr lange dauern kann, gilt für ein reflektiertes Bild nicht dasselbe. So ist Whympers Luftspiegelung nach sehr kurzer Zeit verschwunden infolge von Windeinflüssen, die den reflektierenden Wolkenschirm zerstreuten. Jedenfalls handelt es sich hier um ein sehr seltenes meteorologisches Phänomen, das durch das Zusammenwirken günstiger Faktoren ermöglicht wurde: außergewöhnlich klares Wetter in einer Region, wo sich zwei Klimas begegnen. - Es war eine phantastische Vision, wie wir sie wohl nur im Traume erleben können. Auf dem Matterhorn wurde sie nie wieder beobachtet.

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Letzte aktualisierung am Donnerstag, 12. Februar 2004